Das zugenähte Auge

(Ein Klartraum)

Ich habe manchmal Klarträume. Ein Klartraum ist ein Traum, bei dem sich die träumende Person vollkommen darüber im Klaren ist, dass das, was sie gerade erlebt, ein Traum ist. Ich finde Klarträume viel aufregender als normale Träume, weil man einen Klartraum viel intensiver erlebt als einen normalen Traum. Dass man mitbekommt, dass man träumt, führt aber nur dazu, dass man seine eigenen Handlungen überlegter gestalten kann. Das, was die anderen Figuren im Traum machen, kann man trotzdem nicht vorhersagen oder beeinflussen.

Letze Nacht hatte ich so einen Traum:

Ich halte einen Gutschein in der Hand, habe aber keine Erinnerung daran, woher ich den habe, und weiß auch nicht, was ich dafür bekommen kann. Und ich stehe in einem sonderbaren Geschäft, ohne mich zu erinnern, wie ich dort hin gekommen bin. Ich verliere aber keinen Gedanken an die fehlende Vorgeschichte, mir ist diese Lücke in diesem Moment überhaupt nicht bewusst. Noch ist mir nicht klar, dass ich träume.

Es ist ein modernes Geschäft in dem ich stehe. Es liegt offenbar an einer Hausecke, denn vom Eingang aus erstrecken sich nach links und rechts zwei Trakte, die im rechten Winkel zueinander angeordnet sind. Im rechten Trakt stehen Vitrinen mit Brillen, auch zwei Ständer mit Sonnenbrillen. Mehrere Spiegel. Durch die Schaufenster fällt helles, freundliches Tageslicht. Offenbar das Geschäft eines Optikers.

Im linken Trakt, der keine großen Schaufenster hat, durch die Licht in diesen Teil des Geschäfts fallen könnte, und der deswegen etwas dunkler ist, stehen zwei Zahnarztstühle, zusammen mit den üblichen Gerätschaften, die man üblicherweise in der Nähe von Zahnarztstühle erwartet.

Ab diesem Moment ist mir klar: Das ist ein Traum. Zahnarztstühle in Optikergeschäften gibt es in der Realität nicht. Das ist nicht real. Zur Sicherheit ein einfacher Test: Weiß ich, wie ich hier in dieses Geschäft gekommen bin? Weiß ich, wie es draußen auf der Straße aussieht? Nein. Ich weiß nichts davon. Und ich musste mir die Erkenntnis, dass mir diese Erinnerungen fehlen, auch erst ganz vorsätzlich bewusst machen. Es ist klar: Ich träume.

Ich freue mich, wieder mal einen Klartraum zu erleben, und bin ähnlich gespannt auf das, was bald kommen wird, wie wenn man im Kino sitzt und auf die Leinwand starrt, während gerade der Vorspann zu einem neuen Film läuft.

Ich bemerke, dass von der Optiker-Seite her eine junge Frau in einem weißen Mantel auf mich zukommt. Wir lächelten einander freundlich zu und begrüßten uns, dann ich zeige ihr den Gutschein. Auf die Idee, ihn vorher zu lesen, bin ich nicht gekommen. Sie zieht eine Augenbraue hoch, sagt: »ah, interessant« und bittet mich auf den Chef zu warten, der aber fast im selben Moment auftaucht. Er steht einfach da, ohne vorher von irgendwo an diesen Ort gegangen zu sein. Er war vorher nicht da, jetzt aber doch, aber ohne eine wahrnehmbare Veränderung dazwischen. Und das kommt mir fast völlig normal vor. Aber eben nur fast. Ich bemerke diese Besonderheit doch, und rufe mir nochmals in Erinnerung, dass ich träume.

Der Chef dieses Geschäfts ist ein ehemaliger Schulkollege, den ich seit 35 Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich mochte ihn damals nicht, weil er mir in der Schule immer böse Streiche spielte, aber jetzt wirkt er freundlich. Er bittet mich, auf einem der Zahnarztstühle Platz zu nehmen. Er sagt, er würde den Eingriff jetzt gleich durchführen, das ginge ganz schnell.

Ich bin über das Wort »Eingriff« ein wenig überrascht, denke mir aber: Das ist eh nur ein Traum, da riskiert man nicht wirklich etwas. Wenn es mir zu irreal wird, beende ich den Traum und wache eben auf. Das kann ich schon recht gut: Träume abbrechen wenn sie mir nicht gefallen.

Mein Schulkollege zieht eine Betäubungsspritze auf, wie man sie von Zahnärzten kennt. Er sagt, er müsse mich in Narkose versetzen. Ich finde das skurril, fast lustig, und lasse ihn gewähren. Da ich auf einem Zahnarztstuhl sitze, und er mit einer Zahnarztspritze vor meinem Gesicht herumfuchtelt, mache ich den Mund auf, aber das erweist sich als nicht notwendig. Er sticht in meine linke Wange, in die Stirn über dem linken Auge, in die linke Schläfe und in die Nasenwurzel. Es tut weder weh, noch fühlt es sich sonst irgendwie unangenehm an.

Ich werde müde und schläfrig. Da wird mir plötzlich bewusst, dass er nicht von einer örtlichen Betäubung, sondern von einer Narkose geredet hat. Ich bin kurz davor, einzuschlafen, und habe Angst, dass nun der Traum zu Ende gehen könnte. Ich bin noch nie zuvor in einem Traum eingeschlafen, oder gar narkotisiert worden.

Während mein Bewusstsein schwindet, und ich immer stärker in einen Dämmerzustand verfalle, bemerkt ich sehr vage, aber eben doch, dass mein Schulkollege beginnt, sich an meinem linken Auge zu schaffen zu machen.

Dann folgt ein seltsamer Zustand, den ich noch nie zuvor erlebt habe, und der auch schwer zu beschreiben ist: Ich liege in Vollnarkose, und bekomme nichts von dem, was um mich herum geschieht, mit. Keine Sinneswahrnehmungen. Null. Trotzdem kann ich klar denken und weiß, dass ich träume. Ich weiß, dass ich in diesem Moment mit geschlossenen Augen auf einem Zahnarztstuhl in einem Optikergeschäft liege, und denke mir, wenn ich jetzt die Augen aufmache, kann ich vielleicht sehen, was mein Schulkollege gerade mit mir macht. Also versuche ich die Augen zu öffnen. Das ist sehr schwer, die Augenlieder wollen sich nicht bewegen. Es kostete mich sehr viel Willenskraft. Ich will meine Augen öffnen!

Plötzlich sind sie offen.

Ich sehe das Zimmer, in dem ich schlafe. Meine Frau liegt schlafend neben mir. Das was ich sehe, ist kein Traum mehr, das ist mein Schlafzimmer, in dem ich ganz real, wirklich und wahrhaftig liege. Es ist die Wirklichkeit. Bin ich wach? »Nein!« sage ich in Gedanken zu mir selbst. Ich will nicht wach sein. Ich will weiter träumen. Der Traum ist irgendwie viel zu seltsam um ihn jetzt loszulassen. Ich bin viel zu neugierig darauf, wie der Traum weitergehen könnte, um jetzt zuzulassen, dass ich aufwache.

Ich schließe meine Augen wieder. Nichts geschieht. Mir ist nicht klar, ob ich wach bin oder schlafe. Ich habe die lebhafte Erinnerung an den Traum im Kopf, und will diesen Traum weiter träumen. So wie wenn man einen Film weitersehen möchte, nachdem er von einer Werbepause unterbrochen wurde.

Falls ich überhaupt wach war, schlafe ich wieder ein. Fast im selben Moment wache ich wieder auf. Die Verkäuferin aus der Optiker-Abteilung beugt sich über mich und spricht mich mit meinen Namen an. Ich wundere mich, woher sie den kennt. Ich habe mich ihr nicht vorgestellt. Vielleicht stand er auf dem Gutschein? Ich ärgere mich, dass ich den vorher nicht gelesen habe. Ich richte mich ein wenig auf und sehe mich um. Das Geschäft sieht gleich aus wie vorher. Ich fühle mich noch etwas benommen von der Narkose, und bemerke, dass mit meinem linken Auge etwas nicht stimmt. Ich kann aber nicht sagen, was genau mich da irritiert. Ich stehe auf und gehe zu einem der vielen Spiegel, um zu sehen, was da an meinem linken Auge anders ist als sonst.

Es ist zugenäht. Das obere und das untere Augenlid sind so zusammengenäht, dass ich das Auge nicht aufmachen kann. Als diese Erkenntnis gerade in mein Bewusstsein sickert, noch bar jeden Entsetzens oder jeder anderen emotionalen Einfärbung, also noch als reine Erkenntnis, springt mein ehemaliger Schulkollege hämisch lachend hinter einem Regal hervor und sagt breit grinsend, das habe er schon immer mal ausprobieren wollen. Das sei ganz einfach, ginge schnell, und sähe total komisch aus.

Ich hingegen finde es gar nicht komisch, wieder auf einen seiner Streiche hereingefallen zu sein, so wie damals in der Schule. Und ich fühle mich hilflos, auch wie damals. Doch dann fällt mir wieder ein, dass das hier ja nur ein Traum ist. Nichts von dem, was ich gerade erlebe, ist real. Wenn ich wieder aufwache, wird nichts davon wirklich passiert sein. Also nehme ich das Resultat des Eingriffs gelassen hin, und ignoriere den Schulkollegen einfach. Und schon ist er verschwunden, so als wäre er nie da gewesen. Ohne einen Akt des Verschwindens. Vorher da, nachher nicht, aber dazwischen kein wahrnehmbares Verschwinden. Typisch Traum.

Aber obwohl das linke Auge zugenäht ist, habe ich den Eindruck, damit doch sehen zu können. Ich schaue nochmals in den Spiegel, und sehe, dass das linke Auge nach wie vor völlig verschlossen ist. Eine feine schwarze Naht verbindet die beiden Lider fest miteinander. Nicht der kleinste Spalt wurde offen gelassen.

Ich lege meine rechte Hand auf mein rechtes Auge. Ich lege die Mitte der Handfläche genau auf die Mitte der Augenhöhle. Ich verdeckte das Auge komplett. Nicht mal von der Seite kann Licht in mein rechtes Auge dringen. Und obwohl ein Auge absolut lückenlos zugenäht ist, und das andere ebenso absolut lückenlos verdeckt ist, kann ich mich klar und deutlich im Spiegel sehen.

»Das geht eben nur im Traum« denke ich mir mit einer Mischung aus Freude und Neugier. Freude, weil ich mich darüber freue, einen Klartraum zu träumen, und Neugier, weil ich wissen will, wie die Geschichte wohl weitergeht.

Ich verlasse das Geschäft. Ich gehe den Gehsteig entlang, links von mir die Straße, sie ist menschenleer, rechts die Häuser. Es ist warm und windstill. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen blauen Himmel. Die Straße endet an einer Treppe, die über mehrere Stufen nach unten zu einem Marktplatz führt. Ich komme also in einer etwas erhöhten Position am Rande des Marktes an. Ich bin für alle auf dem Markt gut zu sehen, und ziehe sofort die Aufmerksamkeit der unten stehenden Leute auf mich. Ich gehe zu ihnen hinunter.

»Was ist mit deinem linken Auge?« werde ich gefragt. »Warum ist es zugenäht?« Die Leute sind neugierig. Nicht feindselig, aber auch nicht übertrieben mitfühlend. Ein klein wenig besorgt um mein Wohl vielleicht, aber eben nicht mehr. Emotional eher neutral bis freundlich, zugleich wissbegierig.

Ich sagte den Leuten, dass das weit weniger schlimm ist, als es aussieht, denn ich kann auch mit den zugenähten Auge ganz normal sehen.

Die Leute glauben mir nicht. Sie glauben, ich wolle sie auf den Arm nehmen. Also führe ich es ihnen vor. Ich verdecke mein rechtes Auge mit der rechten Hand, und beschreibe währenddessen, was ich sehe. Die Leute halten misstrauisch verschiedenes Gemüse hoch, das sie am Markt gekauft haben, und ich sage ihnen was es ist. Sie schneiden Grimassen, und ich beschreibe sie.

Die Leute werden ungehalten. Sie fühlten sich irgendwie von mir betrogen. Wolken ziehen auf, und es wird dunkler auf dem Platz. Ich entscheide mich, ihnen meinen Trick zu verraten. Ich sage zu Ihnen: »Das hier ist alles nicht echt. Das ist ein Traum. Es ist mein Traum, und ihr seid Figuren in meinem Traum.«

Das gefällt den Leuten gar nicht. Sie werden wütend und wollen die Wahrheit nicht hören. Niemand glaubt mir. Sie seien keine Traumfiguren, rufen sie mir zornig zu. Die Wolken werden dichter und dunkler. Es beginnt zu regnen. Mit fällt eine Szene aus dem Film Inception ein, in der in einer ähnlichen Situation etwas ähnliches passiert. Ich frage mich, ob ich jetzt gerade diese Veränderung der Umwelt träume, weil ich vor ein paar Jahren diesen Film gesehen habe, oder ob es ein generelles Phänomen ist, dass sich in so einer Situation der Traum gegen den Träumer wendet, und der Film zumindest in diesem Punkt einfach nur gut recherchiert ist.

Meine Überlegungen werden jäh unterbrochen, als die Leute mit ihrem Gemüse nach mir werfen. Vom anderen Ende des Marktplatzes her stürmte plötzlich ein wütender Dinosaurier, ein T-Rex mit weit aufgerissenem Maul, zwischen den Gassen hervor. Ich deutete auf ihn und rufe den Leuten zu: »Wenn das hier real sein soll, woher kommt dann dieser Saurier?« Doch die Leute kümmern sich nicht um das Urzeitmonster. Sie scheinen es nicht wahrzunehmen. Es stampft mitten durch den Markt und bringt dabei den Boden zum beben. Es trampelt einige Marktstände und mehrere Menschen nieder, und steuert mit lautem Gebrüll genau auf mich zu. Aber die Menschen auf dem Markt nehmen keine Notiz von ihm. Heftige Blitze schlagen rings um mich ein, aus dem Regen ist bereits ein heftiger Hagelsturm geworden, und die Menschen vom Markt werfen nun mit Brettern und Steinen nach mir, aber ohne mich zu treffen. Voll Wut stürmen sie auf mich zu. Gemeinsam mit dem Saurier rennen sie in meine Richtung. Es ist unerträglich laut, und ich kann schon den stinkenden Atem des Sauriers riechen.

Teile der Fassade eines alten Hauses, das plötzlich hinter mir steht, dort wo eben noch die Treppe , stürzten herab und krachen dicht neben mir in den Boden.

Es wird eng für mich in meinem Traum.

Und an dieser Stelle denke ich mir: Das muss ich mir von meinem eigenenTraum nicht gefallen lassen. Zeit aufzuwachen. Und ich reiße die Augen auf und bin wach. Diesmal ganz.

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Hubert Schölnast
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