Hubert Schölnast
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Angst |
Ich weiß, dass du das nicht lesen wirst. Du bist schon fast blind und du hast keinen Internetzugang. Andere werden es lesen. Fremde werden es lesen, und Menschen die dich kennen werden es lesen. Menschen, die dabei waren und es bezeugen können werden es lesen, und Menschen die glauben dich gut zu kennen, die aber nicht dabei waren, werden es auch lesen. Letztere werden es vermutlich nicht glauben. Aber niemand wird es dir vorlesen. Die einen werden es nicht tun weil sie wissen, dass es nichts mehr ändert, und die anderen werden es nicht tun weil sie damit nichts zu tun haben wollen. Und weil auch sie wissen, dass das nichts mehr ändert. Es ist geschehen.
Ich schreibe das nicht um dir etwas zu sagen. Ich schreibe das auch nicht um dich vor aller Welt bloßzustellen, obwohl das einige vielleicht so sehen werden. Es wird mir auch nicht besser gehen wenn ich das geschrieben habe. Diese Hoffnung habe ich nicht. Nein, ich schreibe das, weil es mir weiterhin täglich ein kleinwenig schlechter ginge wenn ich das nicht aus mir rausschreiben würde.
Du hast mich geliebt. Das weiß ich. Du hast für meine Schwester und mich eine kleine Holzbank gebaut, die du in deinem weißen Renault 8 in den Fußraum der hinteren Sitzreihe gestellt hast, damit wir nicht von der Sitzbank fallen konnten wenn du bremsen musstest. Kindersitze gab es damals, in den Sechzigerjahren, ja noch nicht. Ich mochte dieses Bankerl. Es war etwas, dass du für meine Schwester und mich gemacht hast um uns zu beschützen.
Und du hast manchmal gespielt mit uns. Hoppe Hoppe Reiter. Oder »Kommt ein Mausi, sucht ein Hausi«. Das hat Spaß gemacht. Das weiß ich noch. Das waren die schönen Momente mit dir.
Ich kann mich auch daran erinnern, als die halbe Nachbarschaft bei uns zuhause war weil wir einen Fernseher hatten und die Mondlandung live übertragen wurde. Damals war ich vier. Das war vielleicht aufregend! Oder wenn meine Schwester und ich im Planschbecken im Garten gespielt haben. Splitternackt sind wir herumgehüpft, und die Nachbarskinder haben mitgespeilt. Das waren die schönen Augenblicke meiner Kindheit. Daran erinnere ich mich gerne zurück.
Ich glaube, ich habe dich auch geliebt. Zumindest als ich noch ganz klein war. Kinder lieben ihre Eltern. Sie können nicht anders. Als Kleinkind muss man alles erst lernen. Man lernt auch, was Normalität ist. Das weiß kein Mensch von Geburt an. Normalität ist das, was daheim passiert. Das Leben zuhause, die Art wie man von den Eltern behandelt wird, wie einem die Nachbarskinder und später dann die Kinder in der Schule begegnen, das alles legt den Nullpunkt des Koordinatensystems fest, das man fortan benutzt um die Ereignisse des gesamten weiteren Lebens einzuordnen.
Mein Koordinatensystem hatte seinen Nullpunkt nicht dort wo ihn andere Kinder hatten. Aber das wusste ich damals natürlich nicht. Deren Vorstellung von Normalität und meine Vorstellung davon wichen eklatant voneinander ab, ohne dass sich dessen irgendjemand bewusst gewesen wäre. So behandelt zu werden wie ich von dir behandelt wurde, das war normal für mich. Und für dich offenbar auch. Aber ich war ein Kleinkind, das es nicht anders wusste. Du warst ein erwachsener Mann. Du hättest es wissen müssen. Auch, oder vielmehr gerade weil dich dein Vater ebenso behandelt hat wie du mich.
Ja, ich habe dich eine Zeit lang geliebt, wie jedes Kind seinen Vater liebt. Aber von den frühesten Erinnerungen an, die ich an dich habe, schwingt immer auch ein anderes Gefühl mit: Angst. Ich hatte Angst vor dir. Große Angst. Je älter ich wurde, desto größer wurde diese Angst. Spätestens als ich sechs war und begann in die Schule zu gehen, war die Angst schon so groß, dass da kein Platz mehr für Liebe war. Ich habe lange vor meinem ersten Schultag aufgehört dich zu lieben.
Ich glaube eigentlich nicht, dass ich damals ein besonders schlimmes Kind war. Ich kann das heute wirklich sehr schwer beurteilen. Ich glaube, dass ich damals viel zu viel Angst vor Strafe hatte, um irgend etwas richtig Schlimmes anzustellen. Aber vielleicht irre ich mich. Ich bin jetzt fast fünfzig, und damals war ich ein Kind. Das ist eine lange Zeit.
Ich glaube vor allem nicht, das ich so unglaublich viel bösartiger und gehässiger als meine Schwester war. Sie hast du nie geschlagen. Kein einziges Mal. Wenn sie auf Bäume geklettert war und dabei ihre Strumpfhosen zerrissen hat, hat sie keine Ohrfeige bekommen. Du hast sie nicht an den Ohren gezogen und du hast ihr nicht den Hintern versohlt. Warum? Nicht, dass ich ihr das gewünscht hätte, aber ich habe deine Prügel sehr wohl zu spüren bekommen, aus Gründen, die mir schon damals, als Kind, nicht klar waren, und das mit einer Wucht, die mir heute noch Albträume bereitet.
Ich weiß nicht, warum du mich damals so sehr verprügelt hast. Immer und immer wieder. Meine Schwester hatte in der Schule schlechtere Noten als ich. Meine Noten haben ausgereicht, mich nach der Volksschule in ein Gymnasium zu schicken. Sie musste wegen ihrer Noten in den B-Zug der Hauptschule. Warum um alles in der Welt hast du mich wegen meiner Schulnoten verprügelt, sie aber kein einziges Mal?
Versteh mich nicht falsch, ich habe keinen Neid auf meine Schwester. Ich habe sie gern, sie konnte ja nichts dafür. Das war mir schon damals, als Kind, klar. Aber warum habe nur ich deine ganze Wut und deinen ganzen Zorn abbekommen? Ich kann mich auch an kein einziges Mal erinnern, dass du mit meiner Mutter gestritten hättest. Kein einziges lautes Wort. Entweder habt ihr eure Meinungsverschiedenheiten in unserer Abwesenheit ausdiskutiert, oder ihr hattet tatsächlich nie Streit.
Weißt du, das Schlimmste ist ja gar nicht, dass du mich geschlagen, und später, als ich älter war, auch mit üblen Schimpfwörtern überhäuft hast. Das, was wirklich schlimm war, war dass du am Samstag, während des Mittagessens, alle Verfehlungen, die ich mir in der letzten Woche zu Schulden kommen habe lassen, penibel aufgezählt hast. Du warst, als ich älter war, sogar Obmann des Elternvereins meiner Schule, und hast dir von meinen Lehrern brühwarm berichten lassen, wenn ich mal eine Hausaufgabe nicht gemacht habe, oder wenn ich in Socken durch die Schule lief, weil ich meine Hausschuhe nicht mehr finden konnte.
Ich konnte kaum essen, so groß war meine Angst vor dem, was gleich kommen sollte. Und du hast gefragt und gebohrt und noch einmal gefragt und ein fünftes Mal nachgebohrt, bis ich dir auch das kleinste Detail meiner ach so abscheulichen Handlungen erzählt hatte. Ich habe geheult und geschluchzt. Rechts von mir bist du gesessen, links meine Mutter und mir gegenüber meine Schwester. Und in meinem Teller waren schon bald mehr Tränen als Suppe.
Dann hast du dich hingelegt. Dein wohlverdientes »Mittagsschlaferl«. Entspannt hast du dich. Bist zur Ruhe gekommen, warst zufrieden mit der Welt und hast für ein paar Minuten abgeschaltet. Zwanzig Minuten lang hast du im Wohnzimmer auf der Couch verdaut und selig geschlafen.
Währenddessen war ich in meinem Zimmer. Habe in den Polster geheult. Habe geschwitzt vor Angst. Jetzt, rund 40 oder 45 Jahre später, schwitze ich wieder während ich das hier schreibe. Es ist derselbe Angstschweiß, der mir auch damals als Kind aus den Poren floss. Heute, im Jahr 2014, fließen mir noch immer die Tränen der Angst aus den Augen, ich bekomme Kopfschmerzen, mein Magen krampft sich zusammen und mir wird schlecht. Meine Finger zittern. Alles ist genau wie damals. Immer und immer wieder erlebe ich das. Seit Jahrzehnten.
Manchmal vergehen mehrere Monate, in denen ich davon verschont werde. Doch es reicht eine Kleinigkeit, um mich wieder daran zu erinnern, und dann kann ich wochenlang nicht einschlafen, weil da wieder diese Erinnerungen und diese Angst sind.
Etwas ist heute aber anders als damals: Heute holt mich niemand mehr aus dem Zimmer um das wahr werden zu lassen wovor ich solche Angst hatte. Ich muss heute nicht in die Besenkammer gehen um den Teppichklopfer zu holen.
Aus drei langen hellbraunen Bambusruten war er geflochten. Ausgesehen hat er wie eine flachgedrückte Brezel mit Stiel, oder wie ein Kleeblatt. Steif und doch flexibel. Mit den Jahren ein wenig zerschlissen vom häufigen Gebrauch. Dabei hatten wir gar keinen Teppich daheim. Du hast damit manchmal die Fußmatten deines Autos ausgeklopft, aber eigentlich hing er zu einem ganz anderen Zweck in der Besenkammer.
Weißt du eigentlich, wie furchtbar das damals für mich war? Dass ich selbst das Folterwerkzeug holen musste? Hast du mich nicht weinen und wimmern gehört? Doch du hast es gehört. Du hast die Fenster zugemacht, damit die Nachbarn nicht hören wie ich gleich schreien und vor Schmerzen brüllen werde.
Du hast das Radio eingeschaltet und lauter gedreht damit man das, was man draußen auf der Straße vielleicht hört, für laute Musik hält. Ö Regional, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger. Meist liefen damals deutsche Schlager und Tanzmusik. Manchmal, wenn ich diese Art von Musik heute höre, fange ich wieder an zu schwitzen und der Magen krampft sich zusammen. Ich bekomme manchmal allein durch diese Musik panische Angstzustände. Nicht immer. Wenigstens das wird mit den Jahren besser.
Aber damals war alles was da geschah die reinste Hölle für mich. Ich musste dir den Teppichklopfer geben, mir selbst die Hose runterziehen und mich dann über den grünen Hocker beugen, oder über die Armlehne des Fauteuils.
Ich habe geheult und geschrien wie am Spieß. Ich habe versucht, mit meinen Händen die nackten Oberschenkel zu bedecken, aber du hast einfach mit deiner linken Hand meine Hände gepackt und weggehalten. Dann hast du mit der rechten, in der du den Teppichklopfer gehalten hast, weit ausgeholt. Und hast dann mit der ganzen Kraft, die in einem rund 35- oder 40-jährigen Mann steckt, zugeschlagen. Mit der ganzen vollen Wucht, die in deinem kräftigen Arm steckte.
Ich habe geschrien. So laut, wie ein geschlagenes Kind nur schreien kann. Ich habe so laut gebrüllt wie ich nur konnte. Mutter, wo warst du? In der Küche hast du dich versteckt, keine fünf Meter von deinem laut schreienden Kind entfernt. Was hattest du so wichtiges in der Küche zu tun während dein Kind gequält wird? Was habe ich angestellt, dass ich das verdient habe? Ich habe vergessen eine Hausaufgabe zu machen. Ich habe nicht alle Schulbücher mitgehabt. Vielleicht habe ich einen Teller zerbrochen oder die Tapete mit Filzstift bemalt. Nein, das kann es nicht gewesen sein. Das alles hat meine Schwester auch gemacht ohne geschlagen zu werden. Was habe ich bloß angestellt, um so bestraft zu werden? Was habe ich angestellt, um den Schutz der eigenen Mutter nicht Wert zu sein?
Dann holtest du wieder aus, und schlugst wieder mit deiner ganzen Kraft zu. Viel Kraft steckte damals in dir. Und du hattest eine große Ausdauer. Manchmal habe ich versucht mitzuzählen, aber es gelang mir nie. Ich weiß nicht mehr, ob ich dreißig Schläge bekam oder dreihundert.
Ich konnte nichts sehen, weil meine Augen so voller Tränen waren. Aber ich hätte schwören können, dass in diesen langen Minuten die Welt dunkelrot und schwarz war. Und sie war voll mit Schlagermusik und dem grässlichen Schreien und Brüllen eines Kindes das ich selbst war. Die Zeit stand still. Alles um mich herum war nur Schmerz und Angst und Qual. Die drei dünnen Bambusruten, zu einem Kleeblatt geflochten, hinterließen so viele Striemen auf meinen Oberschenkeln, dass die einzelnen Striemen gar nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Feuer auf der Haut kann nicht so brennen wie diese Striemen.
Es stimmt übrigens nicht, dass man nach so einer Tortur nicht mehr sitzen kann. Man kann. Ich tat es ja wieder beim Abendessen. Rechts du, links die Mutter, gegenüber die Schwester. Man kann so sitzen. Es tut weh, aber bei weitem nicht so, wie die Schläge selbst weh getan haben.
Ich versuchte mich zu wehren. Ich versuchte, meine Hände frei zu bekommen um mit ihnen meine schmerzenden Oberschenkel zu schützen. Nur selten gelang es mir. Irgend jemand sagte mir, ich müsse stillhalten. Ich dürfe meine Hände nicht nach hinten halten, denn dann würde es nur länger dauern. Ich weiß nicht, ob du oder meine Mutter das gesagt hat. Es ist viel Zeit vergangen seitdem.
Ich habe den Rat befolgt. Ich habe stillgehalten. Und irgendwann ging es auch tatsächlich vorbei. Ich floh danach in mein Zimmer, verkroch mich unter meiner Decke und heulte den ganzen Nachmittag lang. Allein.
Stillzuhalten wenn man geschlagen wird habe ich gelernt bevor ich in die Schule kam. Dort, in der Schule, waren aber leider nicht alle Kinder nett. Unter den Großen aus der vierten Klasse gab es welche, die mir offenbar auf den ersten Blick meine immerwährende Angst sofort angesehen haben. Sie schlugen mich. Rangen mich zu Boden und traten mich. Und ich hielt still, weil es dann schneller vorbei geht. Und am nächsten Tag schlugen sie mich wieder. Und am Tag darauf wieder. Es wurde ihnen nicht langweilig dabei. Die anderen Kinder standen drum herum und sahen zu. Vermutlich waren sie froh, nicht selbst das Opfer zu sein. Schon bald fanden auch die Buben aus meiner eigenen Klasse Gefallen daran mich zu schlagen. Und ich hielt jedes Mal still, weil es dann schneller vorbei geht.
Hast du dir eigentlich jemals Gedanken darüber gemacht, wie und warum ich damals in der Schule meine Hausschuhe so oft »verloren« habe?
Ich habe dann entdeckt, dass ich einigermaßen sicher war, wenn ich mich am Klo einsperrte. An vielen Tagen habe ich mich schon vor der ersten Stunde am Klo eingesperrt, und dort auch alle Pausen verbracht. Wochenlang verbrachte ich aus purer Angst alle Pausen auf dem Schulklo. Allein.
Allein sein ist aber nicht lustig. Ich hatte zwar Angst vor den anderen Kindern, aber ich wollte trotzdem dazugehören. Daher habe ich versucht, bei den anderen Kindern Ansehen zu erlangen. Wenn die anderen mit Joghurtbechern herumgeworfen haben, habe ich das auch gemacht. Ich wollte nicht, dass die anderen glauben ich wäre zu feige dafür. Ich wollte dazu gehören. Ich wollte, dass die anderen mich dafür mögen.
Natürlich hast du von solchen Aktionen erfahren. Hey, Obmann des Elternvereins, zu dir haben alle aufgesehen. Alle zwei, drei Wochen warst du in der Schule und hast dich gekümmert. Worum genau? Um meine Fehltritte? Wurdest du deshalb Obmann des Elternvereins, weil ich dir nie freiwillig irgend etwas erzählt habe und du auf diesem Weg jede Kleinigkeit erfahren hast?
Und du hast mir am Wochenende beim Mittagessen dann jede einzelne dieser Kleinigkeiten vorgehalten. Du hast mich angeschrien und ich habe ins Essen geweint. Du hast mir gesagt, dass es wohl wieder Zeit ist mich zu bestrafen. Nicht jetzt. Erst nach deinem Mittagsschlaferl. Erst wenn du dich entspannt und deine Kräfte gesammelt hast. Erst wenn ich ausreichend Zeit hatte um mich allein in meinem Zimmer in meine Angst hineinzusteigern.
Meine Noten in der Volksschule waren gut. Klar hätten sie besser sein können, das hast du mich ja oft genug schmerzhaft spüren lassen, aber sie waren gut genug, um mich später für ein Gymnasium zu qualifizieren. Aber trotzdem hatte ich einmal bei einem eigentlich völlig unbedeutenden Diktat völligen Mist gebaut. Ich war acht oder neun. Ich bekam die schlechtmöglichste Note, eine Fünf, und offenbar war die Lehrerin so enttäuscht über meine schlechte Leistung, dass sie diesen Fünfer zu allem Überfluss auch noch mehrmals unterstrichen hatte. Sie hatte ja keine Ahnung.
Meine Angst vor deiner Strafe war so groß, dass ich mich nicht nach Hause getraut habe. Ich bin nicht in den Schulbus gestiegen. Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Ich wusste nur, wenn ich nicht heimkomme, würdest du mich trotzdem finden und dann hättest du erst recht einen Grund mich zu bestrafen. Also ging ich doch nach Hause. Zu Fuß. Der Bus fuhr ja nur einmal am Tag. Ich ging sehr langsam, denn ich wollte eigentlich gar nicht heim. Die ersten Kilometer waren erträglich. Aber nach zwei, drei Stunden, als ich schon fast daheim war, wurde die Angst immer größer.
Mein Kinn begann zu zittern, Wasser rann mir aus den Augen, und dann waren es nur noch rund 300 Meter. Ich sah das Haus, das du mit deinen kräftigen Händen selbst aufgebaut hast, bereits vor mir. Diese 300 Meter waren der weiteste Weg, den ich je in meinem Leben gegangen bin. Ich habe so geheult, das ich den Weg kaum noch gesehen habe. Ich habe gezittert am ganzen Leib und laut gewimmert und geheut.
Ich weiß nicht mehr, was geschah als ich dann daheim angekommen war. Ich weiß nicht einmal, ob du überhaupt daheim warst. Jedenfalls hast du mich nicht geschlagen an diesem Tag. An diesem Tag nicht. Ich weiß bis heute nicht warum.
Nach der Volksschule sollte ich in ein Gymnasium gehen. Ich war zehn. Am ersten Schultag in der neuen Schule hatte ich Angst. Ich hatte Angst vor den neuen Lehrern, und noch mehr Angst hatte ich vor den neuen Klassenkameraden. Ich kannte niemanden. Und noch vor der allerersten Schulstunde, noch bevor sich unser Klassenvorstand bei uns vorgestellt hat, noch bevor ich mit mehr als zwei oder drei der neuen Mitschüler ein Wort gesprochen hatte, flog mir ein halb aufgegessener Apfel an den Kopf.
Ich hielt still. Die anderen haben gelacht. Ich saß in der Klasse, mitten unter völlig fremden Kindern und war allein. Ich war der Außenseiter, der Prügelknabe, vom ersten Augenblick an. Und ich tat, was ich unter Schmerzen gelernt hatte: Ich hielt still.
In der kurzen Zeit, die ich in dieser Schule verbracht habe, es waren weniger als zwei Monate, habe ich keine einzige Hausaufgabe gemacht. Ich hatte kein einziges Mal mein Turnzeug mit. Und keine einzige Pause habe ich irgend wo anders verbracht als auf dem Klo. Eingesperrt. Allein.
An einigen Tagen ging ich gar nicht hin. Ich führ mit dem Bus in die Stadt, aber spazierte dann den ganzen Vormittag ziellos herum statt in die Schule zu gehen. Allein. Zur üblichen Zeit fuhr ich wieder nach Hause und tat zuhause so, als wäre alles ganz normal.
Dann sollte ich dir und Mutti einen Brief überbringen, in dem ihr aufgefordert wurdet mit meinem Klassenvorstand zu sprechen. Du solltest den Brief unterschrieben und ich sollte die Unterschrift dann meinem Lehrer zeigen. Ich unterschrieb den Brief selbst. Ich war zehn und hatte keine Ahnung vom Fälschen von Unterschriften. Außerdem entwickelten sich damals die Realität und meine eigene Welt in zwei völlig unterschiedliche Richtungen.
Der zweite Brief erlitt dasselbe Schicksal wie der erste, mit der selben krakeligen Kinder-Fälschung als Unterschrift. Wenige Tage später bekamst du dann einen eingeschriebenen Brief von der Schule.
Ab da war etwas anders. Ich ging ab diesem Tag in eine andere Schule, wo ich zwar auch von den anderen Kindern geschlagen und gemoppt wurde und viele Pausen auf dem Klo verbrachte, aber dort kannte ich wenigstens ein paar der Mitschüler, und daher war es um vieles besser als in diesem Gymnasium, wo ich niemanden kannte. In der Hauptschule schaffte ich es sogar, Freunde zu haben. Aber die neue Schule meine ich nicht mit »anders«.
Du warst anders. Eine Zeit lang hast du mich gar nicht mehr geschlagen. Hat man dir ins Gewissen geredet? Oder hast du selbst erkannt was du da tust? Nein. Das glaube ich nicht. Denn nach einiger Zeit fing es langsam wieder an. Kein Teppichklopfer mehr, und nicht mehr auf die nackten Oberschenkel. Stattdessen Ohrfeigen. Ausgeführt mit derselben Kraft mit der du den Teppichklopfer geschwungen hast. Und es fingen die Beschimpfungen an. Immer wenn wir beide allein waren. Keine Zeugen.
Ich musste dir oft bei der Gartenarbeit helfen. Sobald du mir ein Werkzeug in die Hand gegeben hast, hast du mich beschimpft weil ich es nicht richtig halte. »Idiot« und »Trottel« bekam ich zu hören anstatt einer Anweisung wie ich das Werkzeug richtig halten sollte. Wenn ich etwas dagegen sagte, war ich dann das »Arschloch«. Schön immer ohne Zeugen.
Ich war immer der Außenseiter. Du und Mutti, ihr habt euch gewundert, warum ich keine Freunde hatte. Ihr habt mich zu den Pfadfindern gesteckt, damit ich dort Freunde finde. Aber ich hatte Angst. Angst vor allen Erwachsenen und Angst vor den anderen Kindern. Diese Angst ist noch immer da. Sie geht nicht weg und sie lässt nicht zu, dass ich Vertrauen zu anderen Menschen fassen kann.
Auch an meinem Arbeitsplatz habe ich es nie geschafft, mich mit den Kollegen anzufreunden. Ich hatte ganz einfach Angst vor ihnen. Ich war auch dort immer der Außenseiter. 2009 kam dann der Burnout, danach die Kündigung.
Ich habe in meinem Leben schon so viel Geld für Psychotherapie ausgegeben, dass man dafür zwei fabrikneue Mittelklasse-PKWs bekommen würde. Es wurde ein EEG angefertigt. Die Ärzte sagten, sie könnten aus den Hirnstrom-Kurven herauslesen, dass ich unter Dauerstress leide. Der Burnout wurde offiziell als »Belastungsdepression« bezeichnet, und als Ursache wurde »verminderte Stressresistenz infolge traumatischer Kindheitsereignisse« angegeben.
Der einzige Mensch, dem ich mich heute öffnen kann, ist meine Frau. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, zu mir durchzudringen, aber sie ist die einzige, die ich wirklich in mein Leben hineinlasse. Erst als sie mich das erste Mal im Arm gehalten hat, habe ich gemerkt, dass das noch nie jemand vor ihr getan hat. Auch nicht die wenigen anderen Freundinnen, die ich davor hatte. Ich kann mich nicht erinnern, dass du oder Mutti mich jemals im Arm gehalten hättet. Vielleicht habt ihr es getan, aber ich erinnere mich nicht daran.
Wenn ein Mensch als Kind ein Bein verliert, lernt dieser Mensch auch auf nur einem Bein durchs Leben zu gehen. Man gewöhnt sich daran, macht einige Dinge anders als andere Menschen, und versucht ansonsten ein möglichst normales Leben zu führen. So geht es mir mit der Angst vor anderen Menschen. Ich habe gelernt, damit zu leben und ein halbwegs normales Leben zu führen, und je älter ich werde, desto besser gelingt es mir. Aber das Bein wächst nicht nach.
Ich habe aufgehört dich zu lieben als ich ein kleines Kind war. Mittlerweile bin ich erwachsen und habe auch aufgehört dich zu hassen. Das war einige Jahre nachdem ich herausgefunden habe, dass der Nullpunkt des Koordinatensystems, nachdem ich bisher die Welt vermessen hatte, völlig falsch gesetzt war. Um das zu erkennen musste ich aber erst alles anzweifeln was ich wusste und woran ich glaubte. Wirklich buchstäblich alles. Dieses persönliche Koordinatensystem zu ändern ist so unglaublich schwer und mühsam.
Ich fühle für dich nicht mehr als für die vielen Menschen von denen man in Zeitungen ließt wenn ihnen etwas zustößt. Du bist jetzt über 80. Auf einem Auge blind, auf dem anderen siehst du verschwommene Umrisse. Ich sollte deswegen Mitleid für dich empfinden, denn du bist mein Vater. Aber da ist nichts. Es berührt mich nicht mehr als wie wenn ich in der Zeitung lesen würde, dass ein völlig unbekannter alter Mann in Linz, Moskau oder Peru langsam sein Augenlicht verliert. So etwas wünsche ich niemandem, auch dir nicht. Aber es berührt mich nicht.
Man erzählt mir, dass du auch schön langsam ein eine Demenz hineingleitest. Und wenn ich das höre, fühle ich nichts dabei. Kein Mitleid, keine Zufriedenheit, keine Freude und keine Trauer. Einfach nichts.
Ich wünsche dir ein langes Leben mit allem was du dir selbst wünscht, weil ich das jedem Menschen auf der Erde wünsche. Aber irgendwann wirst du sterben. Vielleicht wachst du eines Tages von deinem geliebten Mittagsschlaferl nicht mehr auf. Das wäre ein schöner Tod. Aber wenn man dich dann in dein Grab legt werde ich nicht dabei sein. Und wenn man später mal jemanden an deinem Grab stehen sieht, dann weißt du, dass das mit Sicherheit nicht ich sein werde.
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Hubert Schölnast
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